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NurPhoto/Getty Images

Offener Brief zu Verhaftung Roman Protasewitsch in Minsk

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der vergangenen Woche hat das Regime unter Aleksandr Lukaschenka die Repressionen in Belarus ein weiteres Mal verschärft. In ungekannter Weise ist es gegen die unabhängige Presse und Journalist:innen vorgegangen. Mit der erzwungenen Landung eines zivilen Flugzeugs durch die belarusische Luftwaffe und die folgende Festnahme des Nexta-Gründers und Bloggers Roman Protasewitsch hat die Verfolgung von Regimekritiker:innen durch den illegitimen Machthaber Lukaschenka eine neue Dimension erreicht. Er verletzt nicht nur auf das Schärfste die in der Charta von Paris und in der UN-Menschenrechtsdeklaration verbürgten Grundrechte und -Freiheiten für die Menschen in Belarus und macht auch die Streitkräfte zum Instrument der Unterdrückung der belarusischen Staatsbürger. Es wird deutlich, dass das Regime auch geheimdienstliche Methoden verwendet, um Regimekritiker auf dem Territorium der EU zu verfolgen und ihrer mit allen Mitteln habhaft zu werden. Der Machthaber verletzt außerdem multilaterale Abkommen und gefährdet in eklatanter Weise den internationalen Flugverkehr und Leib und Leben ausländischer Staatsbürger.

Der Vorfall stellt einen massiven Eingriff in die internationale Rechtsordnung dar und muss durch eine unabhängige internationale Untersuchung unverzüglich und umfassend aufgeklärt werden.

Der Luftraum über Belarus ist damit zur Gefahrenzone, der Überflug zum unkalkulierbaren Risiko für EU-Bürger und all jene geworden, die Demokratie und Freiheitsrechte in Belarus fordern und für sich in Anspruch nehmen. Die EU sollte deshalb europäische Airlines und solche, die Flughäfen in der EU benutzten, ab sofort zum Umfliegen von Belarus anhalten. Die damit verbundenen finanziellen Einbußen des belarusischen Staats durch ausfallende Überfluggebühren sind angesichts des schuldhaften Verhaltens des Regimes zumutbar. Die Vorgabe zum Umfliegen des belarusischen Luftraums sollte nicht für Flüge gelten, die Belarus als Ziel- oder Startpunkt haben. Denn wir wollen die verbliebenen Bewegungsmöglichkeiten für die Menschen in Belarus und den Austausch mit ihnen nicht einschränken.

Die Verantwortlichen für das Abfangen des Flugzeugs – nicht nur der Machthaber, sondern alle Personen, die in Belarus oder ggf. auch außerhalb des Landes diesen illegalen Einsatz der Streitkräftefür Repressionszwecke und die Gefährdung des internationalen Flugverkehrs zu verantworten haben –, gehören auf die Sanktionslisten der EU. Gleiches gilt für die Personen, die die Verhaftung von Roman Protasewitsch angeordnet und durchgeführt haben, sowie für die Richter und Vertreter der Staatsanwaltschaften, die seine Inhaftierung und weitere Verfahren und freiheitsbeschränkende Maßnahmen gegen ihn beantragen und anordnen. Weitergehende Sanktionsschritte sind aufgrund der Schwere des Vorfalls mit Recht in Erwägung zu ziehen.

Die gefährdeten Flugpassagiere und die betroffene Airline müssen vom belarusischen Staat für die Sicherheitsgefährdung und den entstandenen Schaden entschädigt werden. Dies kann erst nach der internationalen Untersuchung erfolgen. Um dem Verlangen nach einer unabhängigen internationalen Untersuchung Nachdruck zu verleihen, kann die EU der staatlichen belarusischen Fluggesellschaft Belavia einstweilen Lande- und Überflugrechte für das Territorium der EU entziehen.

Der Vorfall ist Teil einer Kampagne gegen sämtliche dem Machtapparat kritisch gegenüberstehende Menschen in und aus Belarus. Lukaschenkas Botschaft ist klar: Jeder einzelne, der in den vergangenen Monaten Widerspruch wagte und für seine Freiheit kämpft, muss mit Verfolgung und Verhaftung rechnen – und ist selbst im Exil nicht sicher. Das Ziel ist maximale Einschüchterung. Seit Februar strahlte das Staatsfernsehen mehrere Beiträge aus, in denen auch im Ausland lebende Belarus:innen gezielt und unter Verweis auf den Geheimdienst bedroht wurden. Vorige Woche wurde mit Tut.by das größte unabhängige Nachrichtenportal des Landes geschlossen, etwa ein Dutzend Journalist:innen des Portals sitzen weiter in Haft. Nachdem nun fast jede Kritik und Protestmöglichkeit im Land ausgeschlossen ist, macht das Regime seine zuletzt vom Innenminister verkündete Drohung wahr und jagt Oppositionelle im europäischen Ausland.

Belarusinnen und Belarusen, die in der EU Zuflucht vor der Verfolgung durch Lukaschenka gesucht haben, müssen von europäischen Sicherheitsbehörden vor geheimdienstlicher Verfolgung im Exil geschützt werden. Den Tätigkeiten belarusischer und mit ihr verbündeter Geheimdienste auf EU-Territorium ist besondere Aufmerksamkeit zu schenken und ihrem Tun mit geeigneten Maßnahmen Einhalt zu gebieten. Hinweisen, dass mehrere belarusische und eventuell auch russische Geheimdienstmitarbeiter in Athen mit an Bord des Flugs #FR4978 gestiegen sind, sollte dringend nachgegangen werden.

Die Europäische Union muss sich angesichts der verschärften Repressionen und Atmosphäre der Angst auf eine weitere Welle der Emigration aus Belarus einstellen und den Betroffenen eine unkomplizierte Gewährleistung von Aufnahme, längerfristigem Aufenthalt sowie beruflichen und zivilgesellschaftlichen Tätigkeitsmöglichkeiten in der EU sichern. Sie sollte zudem alle Schritte ergreifen, um den Menschen im Land selbst unverminderte Aufmerksamkeit und Unterstützung zu geben. Dies muss auch im Konzept für die weitere Politik gegenüber der russischen Führung eine prägnante Rolle spielen.

Um die Wirksamkeit der Reaktionen auf den Vorfall zu erhöhen, sollten die Schritte der EU mit den transatlantischen Partnern abgestimmt und ein einheitliches Vorgehen angestrebt werden.

Mit freundlichen Grüßen,

Im Namen der Veranstalter des Arbeitskreises Belarus

 

Marieluise Beck, Ralf Fücks, Liberale Moderne

Jörg Forbrig, German Marshall Fund

Stephan Malerius, Menschenrechte in Belarus e.V. Stefan Melle, DRA e.V.

Dominik Mikhalkevich, Deutsch-belarussische Gesellschaft (dbg)

Ina Rumiantseva, Razam e.V.

Stefanie Schiffer, Europäischer Austausch

 

Berlin, den 24. Mai 2021

 

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